„Gomorrha“ von Roberto Saviano: Fotos vom Leichenwagen
„Gomorrha“ von Roberto Saviano ist eine Mischung aus Journalismus und Belletristik. Mehr Anklage als Buch, ist das Werk eine faszinierende Reise direkt in den Höllenschlund des organisierten Verbrechens.
Es gibt da dieses Musikalbum, das „Il Canto di Malavita – La Musica della Mafia“ heißt. Ein Œuvre, in dem sich eine Tarantella an die vorangegangene reiht, es sind allesamt tolle und melodische Lieder aus Süditalien. „Der Gesang der Unterwelt“ heißt das Album auf Deutsch, und die Titel bedeuten übersetzt etwa „Blut verlangt nach Blut“, „Die Verräter“, „Mafiagesetz der Ehre“ oder „Gefangenenlied“.
Das ist natürlich Folklore. Am Aspromonte regiert die kalabresische ‚Ndrangheta mit harter Hand, in Apulien die Sacra Corona Unita. In Sizilien bestimmt die Cosa Nostra die Schicksale – und in Kampanien und in Neapel die Camorra.
Die Heimatstadt ist ein Hort der Camorra
Mit einer Beretta 92 FS schießt Saviano am dreckigen Strand von Villaggio Coppola auf leere Bierflaschen, da ist er zwölf Jahre alt. Er will nicht, aber der Vater, ein Arzt, besticht ihn mit einem nagelneuen Fußball. Schließlich könne Robertos Cousin auch schon schießen, argumentiert der Vater.
Es sagt alles aus über eine Stadt, wenn sogar Ärzte Waffen haben und sie auch benutzen. Geboren in Neapel, wuchs Saviano 20 Kilometer weiter nördlich in Casal di Principe auf, einer trostlosen Kleinstadt, deren berühmteste Söhne laut Wikipedia-Eintrag zwei hochrangige Mitglieder der Camorra sind, sowie ein Politiker der Berlusconi-Partei PdL, der tief im Sumpf der Camorra steckt. Und daran nicht schlecht verdient hat.
„Gomorrha“, der biblische Ort der Sünde, reimt sich ja schon auf Camorra, im Italienischen schreibt sich der Titel „Gomorra“. Saviano beschloss mit 28 Jahren, einfach nur aufzuschreiben, was er in Casal di Principe und Neapel erlebt und sieht. Er tut das im großen Stil, er erzeugt Nähe, wenn er voller Ekel kotzende Polizisten beschreibt, die wieder einen grausamen Fund gemacht haben. Oder wenn er von Drogensupermärkten und Bandenkriegen erzählt. Oder von Blut und Hirn, das man einfach am Straßenrand entdeckt. Doch die Nähe will vor allem eines: anklagen. Einer echten Anklage wohnt nun einmal keine Distanz inne.
Das Geld liegt auf der Straße, in Form von Leichen
Distanz war nie ein Thema für Saviano. Bevor er promovierte, arbeitete er selbst für einen dubiosen Geschäftemacher aus China, und zwar im Hafen von „Bella Napoli“, dem Moloch. Saviano bekommt mit, wie mit Drogen gehandelt wird und wie man mit Giftmüll Geld macht. Die Täter sind immer auch Opfer in den tristen neapolitanischen Gegenden, in denen das Geld auf der Straße liegt – im wahrsten und makabersten Sinn des Wortes.
Denn es sind die Ermordeten, an denen wenigstens die Bestatter ehrlich verdienen, sie haben mehr als genug zu tun, wie Saviano schreibt: „Die Reifen der Leichenwagen hier sind ganz abgefahren, es reichte, sie zu fotografieren, um ein Abbild dieser Gegend zu haben. Die Typen steigen aus diesen Wagen, streifen sich ihre schmutzigen, tausend Mal gebrauchten Gummihandschuhe über und machen sich an die Arbeit.“
„Ghomorra“: Schockierende Tatsachen
„Gomorrha“ ist ein dunkler Wirbel, ein schwarzes Loch, in das Saviano seine Leser hineinzieht. Es ist wie bei einem schrecklichen Unfall, bei dem man nicht wegschauen kann, es packt einen das kalte Entsetzen und das Grauen lässt einen nicht los. Ein Tatsachenroman, der schockiert, gerade weil er vom realen Alltag der Camorra erzählt. Und eine faszinierende Reise direkt in den Höllenschlund des organisierten Verbrechens.
„La Musica della Mafia“ hat übrigens zwei Nachfolger, sie heißen „Omertà, Onuri e Sangu“ („Verschwiegenheit, Ehre und Blut“) sowie „Le Canzoni Dell‘ Onorata Società“ („Die Lieder der ehrenwerten Gesellschaft“). Genau wie die Camorra-Familien, dort haben die Oberhäupter auch noch immer ihre Nachfolger gefunden.
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